Japan in Zeiten der Corona-Epidemie – von Japan lernen?
Text von: Japanologe Dr. Peter Kleinen
Er ist Freiberuflicher Japan-Experte und Prokurist bei der Zielgebietsagentur JF Tours Innovation GmbH
Laut einer aktuellen Analyse des Londoner Thinktanks Deep Knowledge Group gehören Deutschland und Japan mit Blick auf die gegenwärtige Corona-Pandemie zu den zehn sichersten Ländern der Welt. Tatsächlich belegt Deutschland hinter Israel einen schmeichelhaften zweiten Platz in dieser nun vorliegenden Untersuchung zum Thema Bürgerschutz durch Regierungsmaßnahmen während der Corona-Pandemie. Bewertet wurde in den Kategorien Effizienz der Quarantäne, Effizienz der Regierungsarbeit, Überwachung und Diagnostik sowie medizinische Versorgung. Japan belegt hinter anderen asiatischen Ländern wie Südkorea, China, Taiwan und Singapur sowie Neuseeland und
Australien einen immer noch überraschend guten neunten Platz. Weitere europäische Länder finden sich nicht unter den zehn Bestplatzierten.
Hierzulande verzeichnet man aktuell etwa 188.000 Fälle und rund 8.900 Verstorbene, in Japan hingegen lediglich 17.500 Fälle und etwa 925 Verstorbene. Die täglichen Fallzahlen der letzten sieben Tage lagen in Japan bei 36 – 73 Neuinfektionen. In Deutschland oszillieren die Vergleichszahlen derweil in einem niedrigen bis mittleren dreistelligen Bereich. Was ist in den letzten dreieinhalb Monaten in Japan geschehen? Wie kam es, dass sich Japan keineswegs zu dem Corona-Hotspot entwickelte, als der es in manchen Medien schon ausgerufen worden war? Wie ging Japan bislang durch die Krise, und wie lebt es sich heute in der weltweit drittgrößten Volkswirtschaft?
Japan ging in der Korona-Krise von Anbeginn an einen ganz eigenen Weg und scheint damit, so jedenfalls der gegenwärtige Eindruck, entgegen der anfänglichen Befürchtungen vieler Mahner im In- und Ausland Erfolg zu haben. Kritiker verwiesen im März noch insbesondere auf die vergleichsweise geringe Anzahl offiziell durchgeführter Tests auf Corona-Infektionen, und vermuteten eine hohe Dunkelziffer.
Es kam jedoch anders: Die Zahlen der Neuinfektionen und der mit COVID-19 in Zusammenhang gebrachten Sterbefälle bewegen sich in Japan seit Wochen auf einem erstaunlich niedrigen Niveau, und sinken weiter. Wichtigste Schlüssel zu diesem Erfolg scheinen zwei Dinge zu sein: eine vorübergehend äußerst restriktive Handhabung im Umgang mit Einreisen aus dem Ausland und die Verfolgung der so genannten Cluster-Strategie bei der Suche nach Infektionsansammlungen und -wegen.
Japans Cluster-Strategie, nach eigenem Bekunden seit der SARS-Pandemie 2002/2003 immer wieder erprobt und weiter entwickelt, findet mittlerweile international Beachtung. Im Mittelpunkt steht hierbei die konzentrierte Suche nach Ansammlungen von Infektionen und ihren gemeinsamen Merkmalen. Wie u. a. der Tagesspiegel unlängst mit Verweis auf den japanischen Virologen und Experten für öffentliche Gesundheit Hitoshi Oshitani von der Tohoku-Universität berichtete, wurden diese in Japan vor allem in „Fitnessstudios, Pubs, Livemusik-Veranstaltungsorten, Karaoke-Räumen und ähnlichen Einrichtungen“ verortet.
Auch Christian Drosten, der landesweit bekannte deutsche Virologe vom Berliner Universitätsklinikum Charité, lobt in seinem NDR-Podcast Nr. 44 das japanische Vorgehen als „mutig, aber richtig.“ Er empfiehlt das japanische Beispiel auch als Vorbild für das weitere Vorgehen der Behörden in Deutschland.
Die Lage in Japan hat sich nach Einschätzung der Regierung so umfänglich stabilisiert, dass der auf dem Höhepunkt der Epidemie-Welle am 11. April landesweit ausgerufene Notstand nach nur etwas mehr als sechs Wochen am 25. Mai wieder aufgehoben wurde. Registrierte Neuinfektionen waren unter die selbst gesteckte Zielmarke von 0,5 Fällen pro 100.000 Einwohner im Schnitt der letzten sieben Tage gefallen. Zum Vergleich: In Deutschland hat man derzeit einen Grenzwert von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner definiert. Dabei beinhalteten die mit der Notstandsgesetzgebung in Japan einhergehenden Verordnungen zu keinem Zeitpunkt ähnlich weitreichende und drastische Eingriffe in die Grundrechte und die Bewegungsfreiheit der Bürger wie die diversen Lockdowns europäischen Zuschnitts. Tatsächlich fehlten und fehlen auf japanischer Seite schlichtweg die gesetzlichen Grundlagen für solcherlei Anordnungen. Entsprechend drastische Maßnahmen waren indes aufgrund des besonnenen Verhaltens großer Teile der japanischen Bevölkerung wohl auch nicht notwendig. Die japanische Regierung reagierte letztlich im internationalen Vergleich vergleichsweise früh, sprach bereits Ende Februar Empfehlungen aus, Schulen und Kindergärten, Museen und weitere Innenräume beliebter Sehenswürdigkeiten zu schließen, Massenveranstaltungen wie Konzerte und Sport-Events abzusagen und auch ansonsten das öffentliche Leben auf ein notwendiges Mindestmaß herunterzufahren. An die Bevölkerung wurde appelliert, nach Möglichkeit zu Hause zu bleiben, Abstand zu halten und soziale Kontakte zu vermeiden.
Die Appelle wurden gehört, die Empfehlungen weitgehend eingehalten. Einzelhandelsgeschäfte, Fitnessclubs, Hotels und Gastronomiebetriebe verkürzten ihre Geschäftszeiten oder schlossen vorübergehend ganz, nicht aufgrund einer Anordnung, sondern letzten Endes, weil schlichtweg die Kundschaft ausblieb. Die Einsicht in die Notwendigkeit des Unvermeidlichen eben gerade auf Seiten der Bürger setzte sich durch und zwang dem öffentlichen Leben und der Wirtschaft eine Zwangspause auf, die im Ergebnis den europäischen Lockdowns nicht unähnlich war und ist.
Ein weiterer Punkt darf nicht übersehen werden: Wo sozialer Kontakt unvermeidbar ist, kommen in Japan die Vorzüge bekannter kultureller Besonderheiten zum Tragen: Zur Begrüßung gibt es traditionell kein Händeschütteln, keine Umarmung, kein Wangenküsschen, sondern eine kontaktlose Verbeugung. Ein ausgeprägtes Hygienebewusstsein ist seit jeher weit verbreitet, angefangen vom regelmäßigen Händewaschen und täglichen Baden über das Abstreifen der Straßenschuhe beim Betreten von Innenräumen japanischen Zuschnitts bis hin zum selbstverständlichen Tragen von Schutzmasken auch in „normalen“ Zeiten und jenseits von Epidemien. Statistisch gesehen tragen Japaner Jahr für Jahr rund 5,5 Milliarden Schutzmasken, das entspricht in etwa 43 Stück pro Kopf. Die Gründe dafür sind vielfältig. Schutz der eigenen Gesundheit spielt dabei gewiss eine Rolle. Wichtiger dürfte indes ein weit verbreitetes Bewusstsein für den Wert von Rücksichtnahme auf Mitbürger im öffentlichen Raum sein.
In der Zwischenzeit tastet man sich auch im Land der aufgehenden Sonne Schritt für Schritt in eine gewisse „Normalität“ zurück. Viele Schulen zum Beispiel öffneten am 1. Juni wieder ihre Tore, der Inlandstourismus soll mit finanzieller Unterstützung seitens des Staates angekurbelt werden und Lockerungen der Einreiseverbote zunächst für Geschäftsreisende aus Thailand, Vietnam, Australien und Neuseeland sind für die nahe Zukunft angekündigt. Wann auch touristische Einreisen nach Japan insbesondere aus Europa wieder zugelassen werden, lässt sich indes zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht seriös prognostizieren. Die weitere Entwicklung der Pandemie weltweit, in Europa und natürlich auch in Japan wird von entscheidender Bedeutung sein. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es möglich, dass sich Japan mittelfristig zu einem der auch unter epidemiologischen Gesichtspunkten sichersten Fernreiseziele weltweit entwickeln könnte.